Autobesitz II
Den Job als Zimmermädchen hatten wir durch Kontakte bekommen: meine Cousine managte dort die Bar. Furneaux Lodge ist eine der Unterkünfte am Queen Charlotte Track in den Marlborough Sounds, weit ab von jeglicher Zivilisation – entweder nur mit Wanderstiefeln oder einem Boot erreichbar. Umgeben von nativem Busch und türkis schimmerndem Wasser sagte man der Lodge Geister nach: In der Silvesternacht um die Jahrtausendwende war ein junges Pärchen spurlos verschwunden. Die Ermittlungen hatte man nach 11 Jahren eingestellt. Ich sah nie einen Geist. Andere sollen ihn schon gesehen haben. So war angeblich Makka, das chilenische Zimmermädchen, von ihm überrascht worden, als sie nachts auf die Toilette musste. Und unser zweiter Koch Bill wollte nur noch ungern abends allein in der Küche sein; der Geist ließe immer Türen knarren.
Abgesehen von diesem Spuk war der Ort im wahrsten Sinne des Wortes traumhaft. Wir Mädchen hatten meistens gegen 4 Uhr Nachmittags Schluss. Dann sprangen wir vom Steg in das klare Wasser, schnorchelten und zählten die Seesterne, umrundeten mit Kajaks die Bucht oder schaukelten in der Hängematte hinter Suite 16. An unseren freien Tagen konnten wir entweder in die eine Richtung des Wanderweges spazieren und kamen zu Steve, unser Hausmeister, und Moiras, seiner Frau, Haus. Dort gab es Kuchen und Kaffee und einen Whirl Pool mit Blick auf die gesamte Bucht, wie sie in ihrer perfekten Hufeisenform grün dalag. Oder wir marschierten von der Lodge aus in die andere Richtung, bis wir zu einer morschen Hängebrücke kamen. Sie machte den Weg frei über eine steinige Schlucht und ließ jeweils nur eine Person zu, sie zu überqueren.
Wir waren eine starke Truppe. An die 28 Mann, ausschließlich junge, internationale Leute. Abends gesellten wir uns zu den alten Fischermännern in den Saloon und probierten die Weinkarte durch, spielten Billard – oder, wenn alle Gäste in ihre Hütten verschwunden waren, Bier Pong.
Die Zeit verflog. Und nach vier Wochen saßen Rani und ich schon wieder in unserem Auto. Der Schmerz über den Einbruch und den Verlust unserer Rucksäcke war vergangen. Wir hatten von Second Hand Läden und den Mädels aus der Arbeit vieles neu bekommen. Aber der Schmerz, Neuseeland in eineinhalb Monaten schon wieder verlassen zu müssen, saß tief. Es war Anfang März, Mitte April würde ein Flugzeug uns schon wieder heim tragen. Bei dem Gedanken daran, wurde mir kalt um´s Herz. Ich hatte ein flaues Bauchgefühl, eine Intuition, dass für mich Neuseeland noch nicht ausgeschöpft war. Doch mein Herz wurde bald von meinem Hirn übertönt, Gedanken schwirrten in meinem ganzen Körper herum und blockierten mich, mein Kopf lief heiß. Ich war so eingeschränkt, ich konnte die ganze Reise an der Westküste nicht richtig aufnehmen, weil sich ständig meine Gedanken mit sich selbst stritten. Erwachsen werden, heißt, Entscheidungen zu fällen. Große Entscheidungen, die deinen Weg bestimmen werden, keine Alltagsentscheidungen.
Ich weiß noch, wie ich als Kleinkind das Wort „Entscheidung“ im Radio hörte. Ich war allein in der Küche, vertieft ins Malen und das Stimmengesäusel im Hintergrund. Als dieses für mich noch unbekannte Wort fiel, horchte ich auf. Wissbegierig zog ich los, um meinen Papa zu suchen. Als ich ihn in seinem Zimmer vor einem seiner Bücher fand, blieb ich kleinlaut am Türrahmen stehen. Ich druckste herum. Dann rückte ich mit meiner Frage heraus. Papa kam mit zwei geballten Fäusten auf mich zu und hielt sie mir vor die Nase. Dann öffnete er seine Hände – sie waren leer. „Wenn in einer Hand eine Schokolade liegen würde, und in der andern ein Bonbon – was würdest du nehmen?“ Ich weiß nicht mehr genau, für was ich mich entschieden habe – wahrscheinlich erst einmal für beides. Als ich mich doch auf eines festgelegt hatte, sagte mein Papa: „So, siehst du. Das war eine Entscheidung.“
Ich hatte nun also die Wahl zwischen Schokolade, dem Verlängern meiner Zeit in Neuseeland, und der Süßigkeit, das frühe Heimfliegen. Nach langwierigem Hin und Her wollte ich die Schokolade. Wir waren mittlerweile in Te Anau – in 3 Tagen sollte ich mich wieder in der Furneaux Lodge einfinden um meine Arbeit aufzunehmen. Ich hatte einen Trampmarathon vor mir. Und ließ Rani mit unserem Auto hinter mir. In 3 Wochen würden wir uns wiedersehen, denn wir hatten schon einen gemeinsamen Flug nach Tonga gebucht.
So verlief die gesamte Reise anders als geplant – und das ist auch gut so. Denn kann man keinen Plan aufstellen, hat man keine Erwartungen. Und hat man keine Erwartungen, wird man nicht enttäuscht.
Das eigene Auto allerdings, würde ich keinem empfehlen – es sei denn, er ist damit länger als ich, also länger als 3 Wochen unterwegs.
„Dort ist so wenig Verkehr, da kommt ihr ohne das eigene Fahrzeug nicht weit.“ – Ich kam weit. Ich kam innerhalb von 3 Tagen von Te Anau bis Picton. Das sind über 1000 km. Außerdem sahen Rani und ich auf der Südinsel mehr Tramper als auf der Nordinsel. Da sahen wir nämlich keine. Man muss auf der Südinsel vielleicht mehr Geduld haben, ja. Dafür sind die Menschen noch freundlicher als auf der Nordinsel. Ob man es glaubt, oder nicht – aber der Unterschied von 2 Millionen Bewohnern macht sich bemerkbar (auf der Nordinsel sind es 3, auf der Südinsel 1 Million): Die Angst vor Menschen ist auf der Südinsel so gering, dass sie für mich nie existent geworden ist. Hörte man auf der Nordinsel noch Sätze wie „Passt auf auf euch, Mädels“, rückten an diese Stelle im Süden Floskeln wie „Hey, viel Spaß noch beim Weitertrampen!“, nie jedoch eine Warnung oder ein dubioser Ausspruch vor anderen Menschen.
„Der Autohandel hier in Neuseeland ist ein leichtes Spiel!“ – das ist wohl Definitionsangelegenheit. „Leicht“ hatten wir es in den zwei Wochen, in denen wir verzweifelt nach unserer Frederike suchten, nie. Und auch, als wir sie kauften, war sie über unserer Preisklasse. Aber wir hatten einfach keinen Nerv mehr, weiterzusuchen. Beim Verkauf verloren wir dann ein Drittel des Geldes und mussten außerdem noch Reparaturkosten übernehmen, sonst hätten wir das Auto gar nicht auf den Markt stellen können.
„Man ist so viel freier in seinen Entscheidungen – man kann dorthin fahren, wo immer man hin will.“ – Ja, man kann dorthin fahren, wo immer man will. Als „freier“ würde ich den Zustand allerdings nicht bezeichnen: Besitzt man was großes, hat man große Verantwortung. Und Verantwortung schränkt die Freiheit nun mal ein. Als uns Frederike im zweitgrößten Nationalpark Neuseelands an einem Sonntag vom Weg abrutschte und mit einem Rad in der Luft hing, fühlten wir uns alles andere als „frei“. Als aufgebrochen wurde, nahmen sie uns nicht nur die Rucksäcke, sondern auch das Gefühl von Leichtigkeit und tauschten es in Last um. Und überall hinzukommen, damit hatten wir auf der Nordinsel schon kein Problem. Der einzige Vorteil war natürlich, dass wir unsere Rucksäcke im Auto lassen konnten. Aber wahrscheinlich wären wir genauso sicher gewesen, wenn wir sie irgendwo im Gebüsch versteckt hätten.