Vom Schrottplatz in den Märchenwald

Am vierten des Dezembers schafften wir es dann endlich, uns von Kerikeri loszureißen. Nicht ohne davor jedoch auf unserem Schrottplatz dem Christkindl einen Brief mit unseren Weihnachtswünschen zu hinterlegen. Die Liste beinhaltete: Essen. Tonnenweise Essen. In Form eines Picknicks am Strand. Und dass wir danach unsere Bikinifigur beibehalten mögen.

Dann mischten wir uns unter die feiernde Menge der Kleinstadt. Nein, sie hatten kein Abschiedsfest für uns vorbereitet, dafür aber einen vorweihnachtlichen Umzug. Es ging zu wie auf der Love Parade: Oldtimer, Traktoren, Motorräder, Dreiräder, elektronische Rollstühle – alle waren sie farbenfroh und glitzernd geschmückt – rollten an uns vorbei. Eisprinzessinnen, lebensgroße Kiwis und Omis in knallbunten Gymnastikanzügen turnten, trampelten und tuckerten in ihren Gehhilfen vorüber. Bonbons wurden geworfen. Es wurde geklatscht und gejohlt. Jeder war da, jeder war Teil des Halligallis. Mit dem letzten vorübertanzenden Kiwi schloss sich die Menge dem Zug an. Während die Masse in eine Richtung tanzte, gingen Rani und ich, die verlorenen Süßigkeiten von der Straße aufklaubend, in die andere.

Seit zwei Wochen waren wir mittlerweile schon nicht mehr getrampt. Ob wir es noch drauf haben? Nach 15 Minuten Rumstehen traten jedenfalls schon die ersten Zweifel auf – nach neuseeländischen Verhältnissen hätten wir mindestens schon drei Mal mitgenommen werden müssen. Nach 20 Minuten dachte ich, wir hätten unser Karma verloren und nach 25 Minuten wollten wir schon auf eigene Faust losmarschieren. Da hielt ein kleiner, blauer Peugot. Ana, eine aufgeweckte Maori Frau, erzählte uns von zwei männlichen Trampern, die 9 Stunden an der Stelle warteten, bis sie als Glücksfee auftauchte: sie hatte die beiden schon morgens auf ihrem Weg zur Arbeit entdeckt – auf dem Rückweg nahm sie die Armen dann mit. Waren die Kerikerianer doch nicht so aufgeschlossen wie wir dachten?

Nach kurzer Fahrt ließ uns Ana in einem kleinen Dorf raus, bog ab und wir waren wieder allein. Außer einer Frau, die ihren Kinderwagen auf dem Teer einer verlassenen und mit Brettern zugenagelten Tankstelle herumschob, war keine Menschenseele unterwegs. Die Kühe auf der Weide hinter uns grasten friedlich. Wir standen im Schlamm des Straßengrabens und warteten. Rani hielt noch dazu unser Schild verkehrt herum – aber das erfuhren wir erst von den Insassen des nächsten Wagens. Der fast auseinanderfallende Bus war nur mit Sitzen für Fahrer und Beifahrer ausgestattet – der Rest war Boden, mit Müll bedeckt. Drinnen saßen 7 junge Maoris, der älteste fuhr, die zweitälteste trohnte auf dem Sitz neben ihm. Sie alle waren irgendwie verbrüdert, verschwestert, vercousint, verschwägert… an ihre Namen kann ich mich sowieso nicht mehr erinnern. Einer der Mittleren ließ von seinem Handy Musik spielen. Usher dröhnte uns in schlechter Qualität ins Ohr – sonst war es still im der Schepperkiste. Mit den zwei auf den Vordersitzen konnte man auf Grund der Lautstärke nicht reden. Und der Rest der Bande guckte uns mit großen Kinderaugen scheu an. An der Kreuzung zur Hauptstraße ließen sie uns raus. Sie mussten in die entgegengesetzte Richtung als wir: sie wollten zu der noch größeren Christmas Parade in der noch größeren Stadt mit 7000 Einwohnern! Das musste ja da richtig zugehen…

Wir standen als wieder am Highway und keine Minute später hielt Brat. Er war auf dem Weg nach Auckland – wir nach Whangarei. Beziehungsweise wollten wir zu den Glühwürmchenhöhlen östlich von der Stadt. Brat waren die Höhlen unbekannt, bot uns aber trotzdem an, uns direkt dort hinzubringen. Die trockenen Büroparty, auf die er wollte, konnte warten. Und es war sowieso erst Nachmittag. Wir verfuhren uns, drehten uns im Kreis, kamen westlich, südlich, nördlich – aber nie östlich. Während wir sinnlos durch die Straßen von Whangarei fuhren, kicherte Brat die ganze Zeit. Für den 34-jährigen Computerspielfachverkäufer war das Aufregung pur! Dann endlich fanden wir die richtige Abzweigung und fuhren auf eine verlassene Straße. Mit jeder Kurve wurde der Abhang links von uns steiler und die Steinmauer rechts von uns bedrohlicher. Autos kamen uns keine entgegen und als uns Brat an einer Engstelle mit dem kleinen Hinweisschild auf die Höhlen rausließ, bat er uns an, uns am nächsten Tag auch wieder abzuholen. Es ist wohl ein leichtes, in Neuseeland einen persönlichen Chauffeur zu finden.

Die Nacht campten wir mitten in eine Kuhle eines verwunschenen Märchenwaldes. Die Bäume waren mit weißem Moos bedeckt, das an der alten Rinde hing wie lange Bärte an weisen Senatoren. Skurrile Steinbrocken lagen wie vom Himmel gefallenen Sternschnuppen im Gras und stellten die verschiedensten Tiere von Noahs Arche da. Eine Wiese mit blühendem Scharfgabenkraut erstreckte sich wie eine Salzwüste vor uns und betörte uns mit ihrem süßlichen Duft. In den dunklem Höhlen fanden wir neben den leuchtenden Glühwürmchen auf schimmernde Aale vor, die sich dort in der Dunkelheit seit Jahren in den Quellpfützen suhlten. Wir waren von einem Schrottplatz in einen Märchenwald gezaubert worden.