Kannibalismus?

Als Dank für diese zauberhaften Weihnachtstage schenkten wir Ian und Rose zum Abschied einen Feijoabaum. Rani und ich haben Feijoas zum ersten Mal probiert, als wir mit Bong auf einer gratis Weinprobe gelandet waren. Zum selbstgebrannten Feijoaschnaps servierte der aufgedrehte Weinkellerbesitzer die Früchte dazu. Tiefgefroren. Denn Saison ist erst im April. Als wir uns die aufgeschnittenen, grünen Scheibchen in den Mund steckten, explodierten daraus die verschiedensten Geschmäcker: zuerst mundete das saftige Fruchtfleisch ein wenig nach Banane. Kaute man ein bisschen weiter, wurde es zu Zitrone. Schob man es im Mund umher, verwandelte es sich zu einer reifen Erdbeere… Diese Frucht war das einmalige Ensemble eines Fruchtsalates! Seit diesem Tag an waren Rani und ich vernarrt in diese Frucht. Als wir in einem kleinen Blumenladen den verkrüppelten Feijoabaum sahen, mussten wir ihn einfach kaufen. Denn, sind Geschenke, die man am liebsten selbst behält, nicht die schönsten?

Wir banden einen schmalen Streifen weißes Leinentuch in einen der dürren Ästchen und machten einen Knoten hinein. Jeder Knoten ein Wunsch, erklärten wir unseren Gastgebern, als wir ihnen unser Geschenk überreichten.
Ian fuhr mit uns zu einem Erdbeerfeld, wo wir „so viel pflücken sollten, wie es nur ging“. Dann setzte er uns mit unserer Plastiktüte voller roter, saftiger Früchte im Schatten eines großen Baumes am Highway ab.

Wir standen nicht lange, da bog ein monströser Truck auf unsere Straße ab. Ich hielt meinen Daumen hoch und schrie „Truckdriver“ – so wie ich immer reagiere, wenn so ein Mörderding auf uns zufährt. Ich fahr gern in LKWs mit – sie legen meist lange Strecken zurück und bieten dir immer Bier an. Hier in Neuseeland sind die meisten LKW Fahrer Maori; jedenfalls meiner Quote nach.

Der Truck hielt einfach inmitten auf der Straße. Sein Steuermann (ein Maori) sprang auf den Asphalt und schlürfte mit faulen Schritten in seinen offenen Arbeiterstiefel ans Ende des Trucks. Gelassen öffnete er die Ladetüren und wartete gemütlich rauchend, bis wir unser Gepäck in den Kühlraum geworfen hatten. Dann begab er sich wieder nach vorne. Rani und ich kraxelten eifrig in die Kabine hoch. Hinter uns hatte sich eine lange Schlange von Autos gebildet, die fast bis zum Kreisverkehr ging.

Der Fahrer zündete sich erst einmal eine neue Zigarette an, blickte kurz in den Seitenspiegel und schnaubte. Dann ließ er ratternd den Motor an und stellte sich vor. Ich verstand kein Wort. Entweder lag es an der Geräuschkulisse, an seinem halb geöffneten Mundwinkel, weil er mit der geschlossenen Seite die Zigarette halten musste, oder an seinem krassen Akzent. Also fing ich an, Fragen zu stellen. Das ist immer die Taktik, wenn ich mein Gegenüber nicht verstehe – und wenn ich merke, es redet gerne: ich stelle interessiert Fragen, und hoffe, dass keine Gegenfrage zurückkommt, weil ich diese nur mit einem blöden Lachen abtun könnte, da ich sie ja nicht verstanden habe. Trotzdem bemühe ich mich natürlich, das Verständlichste rauszufiltern – darauf mussten ja schließlich die neuen Fragen aufgebaut werden. Zwischen den 30 und 80 km/h, die wir an den Tag legten, erfuhr ich bruchstückartig vom Schulsystem in Neuseeland, der lokalen Försterei und Maori-Kulte. Von Mord und Totschlag, Krieg zwischen den verschiedenen Stämmen und Kannibalismus. Denn die Maori waren der Ansicht, das mana, die Ehre, eines anderen zu bekommen, wenn man ihn verspeiste. Unser Truckdriver fing erst ganz klein an: Wollte ein Maori, das Ansehen eines Steines, so aß er einen Stein. Wer wollte aber schon das mana eines Steines?, lachte er über seinen eigenen Witz. „Also aßen sie sich gegenseitig auf.“ Stille. „I reckon human meat isn´t that bad.“ Schock.

Bis heute weiß ich nicht, ob ich hier „reckon“ mit vermuten übersetzen sollte – denn mit einer Vermutung hatte er offensichtlich noch keine persönlichen Erfahrungen.

Oder mit „meinen“ – soll heißen, er hat es selbst schon ausprobiert.

Wir baten ihn, uns an der nächstmöglichen Raststelle rauszulassen.