Wir leben doch im Paradies

Der oberste Norden

So pesten wir also an einem schönen Sonntagmorgen bis hoch zur Spitze der Nordinsel. Unsere, immer noch mit Luft gefüllten, Isomatten steckten die ganze Fahrt über kreuz und quer wie die sperrigen Bretter der Surfer damals im kleinen „Columbo-Auto“. Der frühmorgendliche Schock saß uns immer noch in den Gliedern. Erst als er langsam schwand, fiel uns ein, dass wir uns ja auch höflich entschuldigen hätten können, anstatt wie Michael Schuhmacher uns im hellblauen Flitzer aus dem Staub zu machen… aber da waren wir schon kurz vor Cape Reinga. Und der Ort ließ uns alle Sorgen vergessen: am nördlichsten Punkt einer Insel zu stehen und zwei mächtige Ozeane aufeinander fließen zu sehen ist atemberaubend. Paradiesisch. Ungreifbar. Und doch direkt vor deiner sonnenverbrannten Nasenspitze. Es ist zu groß, um es auf das kleine, weiße Blatt vor mir niederschreiben zu können.

Ich verließ Cape Reinga mit leichten, federnden Schritten. Schwebte durch die mir entgegenwallende Touristenwelle hindurch und wünschte ihnen lautlos dasselbe Glücksempfinden, das ich empfand.

Unser nächstes Ziel war die Spirits Bay. Die Bucht, an der Westküste vor der Spitze, an der laut maorischer Legende die Seelen der Toten entlanglaufen, am Ende der Bucht auf einen abgestorbenen Baumstamm klettern und sich von dort in die Fluten stürzen. Der Sand der Bucht war kein Sand. Er bestand aus Zentilliarden von kleinen, abgeschliffenen, pinken, gelben, orangenen Muschelschalen. Sand, den du – nachdem du darin gelegen bist – dir nicht aus der Hose klopfst, weil es so schön aussieht, wenn du wie eine Meernixe an ihrem Schweif pinke Muschelschalen mit dir rumträgst. Sogar die vor sich hin rottende Babywalleiche, die aussah wie ein Alligator, konnte mit ihrem Gestank die Schönheit des Ortes nicht verpesten.

Diesmal blieben wir auf einem DOC (Department of Conversation)-Campingplatz gegen eine kleine freiwillige Spende. Außer uns waren noch drei andere dort: Deutsche, die sich in Auckland zusammen gefunden haben und nun mit einem klapprigen, alten Bus mit 70 km/h um Neuseeland tourten. Wir wünschten einander einen schönen ersten Advent und eine gute Nacht mit der Idee, am nächsten Tag den Hügel, der das südliche Ende der Bucht einschließt, zu erkunden.

Gesagt, getan: Unter strahlend blauem Himmel ging es am nächsten Morgen los. Es war keine ausgeschriebene Wanderung – wir waren auf eigener Mission unterwegs. Wir gingen vor bis zum Strand und hüpften dort über einen kleinen Priel, der große, runde Steinklumpen umfloss, die wie Bouling Kugeln eines Riesen zufälling angeordnet dalagen. Kaum auf der anderen Seite gelandet, fing schon die Steigung an. Wir wanderten waagrecht über dörres Gras vom Meer weg, um die beste Aufstiegsstelle zu finden. Am unteren Ende des Bergkammes dachten wir, sie gefunden zu haben und begannen unsere Bergbesteigung. Konzentriert stapften wir im Gänsemarsch hintereinander her. Hätte man uns vom Campingplatz aus beobachtet, hätte man meinen können, wir wären auf wichtiger Expedition unterwegs: In Reih und Glied, wie durch ein unsichtbares Seil verbunden, bahnten wir uns den Weg über den Kamm. Doch bald suchte jeder seine eigene Spur, von dem er dachte, sie sei die einfachste. Wirr verteilt und wild schnaufend kletterten wir an bizarren Steinformationen vorbei und rutschten auf der trockenen Erde aus. Mühsam bezwangen wir die enorme Steigung und als sie endlich abflachte, dachte ich, ich sei nun wirklich im Garten Eden gelandet: Auf der einen Seite hatte man Ausblick auf dichtes Buschland, davor ein weites Feld, auf dem Wildpferde friedlich grasten, bevor es als zerkluftetes Gefälle steil in den azurblauen Ozean abfiel. Auf der anderen die Bucht mit ihrem pink-orangen leuchtendem Strand.

Das Wasser im seichten Bereich klar und golden von den Sonnenstrahlen, je tiefer desto voller wurde das Blau mit seinen schillernden Wellenspitzen. Uns hatte es die Sprache verschlagen. Stumm verständigten wir uns darauf, zu den Wildpferden herunter zu klettern und uns bis an die Front des Kammes zu wagen. Es ging durch Gestrüpp und dürren Bäumchen auf rauen Felsen abwärts, dann befanden wir uns auf der weichen Wiese mit ihren Wildpferden. Ich wollte es Ronja Räubertochter am liebsten gleich tun, und mir eines einfangen, aber sie waren schlau. Auf neugierigen Abstand kamen sie herbeigetrabt und flohen dann wie auf Kommando in die entgegengesetzte Richtung. Wahrscheinlich hatte sie unseren Schweiß gerochen – die Sonne stand mittlerweile in ihrem Zenit und brannte auf unsere schwer atmenden Körper herab. Wir balancierten auf dem schmalen Grad bis zur vordersten Spitze des Hügels – und standen auf einem Sprungbrett. Etwa 80 Meter unter uns erstreckte sich der Ozean. Wir wollten nichts wie rein ins kühle Nass, uns abfrischen – aber nicht auf dem Weg eines waghalsigen Sprunges. Wir wählten den Weg durch den Busch

Beziehungsweise: es blieb uns keine andere Möglichkeit. Und der Busch war dicht. Und hoch. Und je tiefer wir uns in ihm verliefen, desto dichter und höher wurde er. Bis wir schließlich auf allen Vieren krochen und uns unsere Gesichter an den dürren Ästchen vom trockenen Gestrüpp aufkratzten. Aber wir schafften es und kamen unten wieder an dem Priel heraus. Er war mittlerweile breiter geworden: es war Flut! Wir rannten um unsere Badesachen und erfrischten uns mit einem wohlverdienten Bad im Ozean.